Siegfried, Achilles, Chiron: die Macht meiner Schwächen

Siegfried tötete den Drachen, badete in dessen Blut, um sich unverwundbar zu machen.
Bei seinem Bad fiel ihm ein Lindenblatt auf die Schulter, auf seinem Rücken entstand eine verwundbare Stelle. Genau an dieser Stelle durchbohrte ihn Hagens Speer.
Als Achillesferse bezeichnet man die verwundbare Stelle des Helden.
Als „Schatten“ bezeichnet man seit C. G. Jung unbewusste Anteile der eigenen Seele.

Ein wesentlicher Teil der Verantwortung für sich selbst ist die Anerkennung der eigenen Grenzen, Defizite und Schattenseiten. Mit dem Erkennen der eigenen dunklen Seiten im Charakter, seine „Schatten“, Schwächen, Ängste und Makel, vermag der zu wahrem Mitgefühl fähige Mann Verantwortung für andere zu übernehmen – er wird vertrauens- und glaubwürdig.
Würde entsteht, wenn die bis dahin unreflektiert ausgelebten Schatten als solche erkannt und als eigener An-Teil anerkannt werden, und so zum Ge-Wissen werden.
Das Mitgefühl entsteht aus der Einsicht und aus der Kenntnis seiner eigenen Schwächen. Das macht einen Mann sanft und verständnisvoll, nicht nur fähig, eigene Fehler einzugestehen, sondern auch für eigene Fehler Verantwortung zu übernehmen, Verständnis auch für die Fehler anderer zu entwickeln. Diese Einsicht ist deswegen notwendig, weil die Selbsterkenntnis in der Regel an genau dieser Stelle aufhört: Ich kann diese Seiten an mir schlichtweg nicht „sehen“! So wenig, wie ich meine eigene Stirn, mein eigenes „Sehendes“ (mein Auge) nie ansehen kann, noch weniger jemals meinen Rücken, meine dunklen Seiten um Gesäß und Anus zu sehen vermag, so kann ich auch die dunklen Seiten meiner Seele, eben meinen „Schatten“ alleine nicht erkennen. Er zeigt sich (körperlich wie seelisch!) dann, wenn ich mich abwende von denen, die mir (bildlich wie real) nahe stehen. Und nur diese Menschen können meine Schattenseiten überhaupt sehen. Aber dieser Schatten „wirkt“. Darum ist es für die Kraft unbedingt notwendig, sich der Kritik genau dieser Menschen auszusetzen – ohne sich selbst dabei zu schonen, denn in deren Kritik, die (fast immer!) berechtigt ist, erkenne ich meine von mir abgelehnten „dunklen Seiten.“
Es sind dies all die verdrängten, abgelehnten und unbewusst wirksamen sogenannten „schlechten Gefühle“, die ich hier in ihrer Gesamtheit den „Inneren Drachen“ nennen möchte. Diesen Drachen aufzusuchen, sich ihm zu stellen, ihn anzuschauen und zu bändigen, stellt den Drachenkampf des modernen Mannes dar. Den Drachen, der da in mir schlummert und in den dunkelsten Momenten wach wird, den aufzusuchen, kennenzulernen und ihn so zu zähmen, um ihn „reiten“ zu können, diese dunklen Gefühle also zum Instrument meines Lebens zu machen, das meine ich im Folgenden mit „Schattenarbeit“. Sie ändert massiv die Beziehung zu mir selbst, zu meiner Partnerin, zu meinen Mitarbeitern, Freunden und besonders den Umgang mit Kindern: Ja, ich trage einen Drachen in mir!
Umgekehrt wächst mit der Anerkennung dieser Schatten auch meine Selbstachtung. Aristoteles wusste: „Wem der Zorn fehlt, dem fehlt auch die Selbstachtung.“
Wie entwickelt Mann denn dieses Bewusstsein für die eigenen „Schattenseiten“?
„Lerne zuzuhören, und du wirst selbst von denen lernen, die schlechtes reden.“ – Plutarch
Was C.G. Jung „Schatten“ nannte, nennt Wais den „Doppelgänger“: „Der Doppelgänger ernährt sich von allem, was das Ich nicht wahrhaben will und kann es deswegen zur unbemerkten Gewohnheit werden lassen. Dadurch bekommt er für jeden Menschen individuelle Gestalt. Im Laufe des Lebens zieht er alles an sich, was das Ich nicht wahrhaben will, was es meidet, was es verdrängt … [und] verselbständigt sich im Unbewussten.“
Wie erkenne ich meinen Schatten?
Am deutlichsten zeigen ihn uns unsere Kinder. Kinder sind ein Abbild unserer sonnigen Seiten und Talente – aber auch unserer Schwächen: „Von mir hat das Kind diese Intelligenz nicht – ich hab meine noch!“ Kinder haben das Bedürfnis nach einer „heilen“ Welt, heil nicht im Sinne von „schön“, gesund, sonnig, hell und schattenlos, sondern „heil“ als Gegensatz zum „Un-heil“, nämlich ganz, vollständig. Wird etwas ausgeschlossen und verdrängt, interessiert es sie erst recht, denn das Unbekannte, gerade das Dunkle, Verbotene, Gefährliche, macht sie neugierig, es zu erleben, denn da können sie sich selbst entdecken und sich, ihre Stärken erfahren und beweisen. Und weil sie im Sinne von „gut und schlecht“ unerfahren und noch weitgehend wertfrei leben, wählen sie bei dem, was sie interessiert, nicht nach den Vorstellungen der Eltern aus. Im Gegenteil: In der Ablehnung der Eltern spüren sie sich selbst. Kinder suchen, um zu erfahren und leben daher gerne das aus, was wir (in uns) ablehnen, spätestens und am deutlichsten in der Pubertät.
Aber auch Fremde, die bestimmte für uns unangenehme Seiten, Eigenschaften deutlich ausagieren, können Hinweise auf eigene Schattenseiten tragen. Laute Nachbarn, duckmäuserische Kollegen, präpotente Lehrer, was immer uns an lästigen Eigenschaften unserer Mitmenschen auffällt, könnte unseren eigenen Anteil spiegeln, nach dem Prinzip: „Es geschieht in deinem Leben, vielleicht sogar wiederholt – aber es soll nichts mit dir zu tun haben?“
Eine besondere Fähigkeit, besonders substanzielle Kritik abzugeben, hat die eigene Partnerin, die eigene Frau. Um Frauen als Spiegel unseres Unbewussten, des uns Unbekannten, als Chance, zu wachsen, zu „benutzen“, dazu gehört ausdrücklich AUCH, destruktive Kritik als etwas Zerstörendes anzunehmen. Annehmen sei verstanden im doppelten Sinn: als Vermutung und An-nahme, Akzeptanz. Denn erstens ist sie in der „Nähe“, sie sieht also mehr, als Menschen, die uns weniger nahestehen, zum Zweiten sieht sie durch mein physisches wie psychisches „Mich- Abwenden“ meinen Rücken, meine mir unbekannte Seite, ganz genau. Aus diesem Grunde ist es so wichtig, die Frau in ihrer Kritik ernst zu nehmen und zu sehen, ihr aufmerksam zuzuhören, sie dadurch anzuerkennen als Spiegel unseres eigenen Schattens. Was eine (liebende!) Frau in uns kritisiert, ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Muster, ein Verhalten, eine Angewohnheit, eine Haltung, ein Schatten-an-Teil in uns, das sich überlebt hat, uns behindert und, vermutlich aus Bequemlichkeit, bislang beibehalten wurde. In Paargesprächen ist es möglich, Mut und Offenheit vorausgesetzt, sich selbst zu erkennen, als der, der zu sein man bislang nie glauben wollte: „Am Du werden wir erst zum Ich.“ (Martin Buber)
Erschwerend kommt bei den „Schattengesprächen“ hinzu, dass Frau wie Mann dazu neigen, Anteile aus den eigenen Schatten (der Vergangenheit) in diese Gespräche mit einzubringen. Das besondere Gefühl, hier zu unterscheiden, was beim Gegenüber zu“trifft“, dazu braucht es viel Feingefühl, Übung, Erfahrung und manchmal eben Freunde oder einen Therapeuten.
Dass wir uns selbst im anderen sehen (können), zeigt der Blick hinter die Pupille: Wenn ich tief genug schaue, entdecke ich dort mein Spiegelbild, mich selbst in den Augen des Gegenüber. Ist dies vielleicht die erste, ursprünglichste Form der Selbsterkenntnis des Menschen, aus der Zeit, als spiegelnde Wasseroberflächen noch rar waren?
Schattenseiten zu betrachten, zu erkennen und sie anzunehmen, ist für schwache Menschen, z. B. Narzissten, fast unmöglich, weil ihr fragiles Selbstbild dabei Schaden nehmen würde. Diesen Erfahrungen sich auszusetzen, kostet enorme innere Kraft, denn nicht nur der Prozess der Selbsterkenntnis an sich, auch die Charakterzüge, die bei der Betrachtung der Schatten auftauchen werden, sind alles andere als angenehm.
Den leichteren Rahmen zur Reflexion bieten männliche Freunde. Bei ihnen ist die Gefahr geringer, dass ihnen ihre eigenen Schatten die Kritik vorgeben, dass sie ihre eigenen Schrecken projizieren: „Die Fähigkeit eines Mannes, die direkte Kritik eines anderen Mannes anzunehmen, entspricht seiner Fähigkeit, maskuline Energie aufzunehmen. Wenn er keine gute Beziehung zur maskulinen Energie (zu seinem Vater) hat, handelt er wie eine Frau und ist verletzt und defensiv, statt sich die Kritik anderer Männer zunutze zu machen.“
Um als Freund ein echter Gesprächspartner zu sein, braucht es die Erfahrung und Fähigkeit zur Selbstreflexion. Einfache Gespräche, der Austausch von Statements, Behauptungen, hart am Rande der Rechthaberei, machen noch kein Gespräch unter Männern, unter Freunden aus. Das Gespräch, das den inneren Wachstumsprozess auslösen kann, entsteht erst aus der wohlwollend-kritischen Frage. Sich selbst infrage stellen zu können, ist die Voraussetzung dafür, den Freund infrage zu stellen – und sich infrage stellen zu lassen. Diesen Wachstumsprozess zu initiieren und zu begleiten, das macht wahre Freundschaft aus. „Wer aber ein echter Freund sein will, der braucht die Abgeschiedenheit, um über sich selbst zu reflektieren. Um aber [andererseits] ein ehrliches Verhältnis zu mir selbst zu haben, muss ich wahre Freundschaft kennen, weil ich im Gespräch mit dem Freund mich selbst entdecken kann. Hier wird deutlich, dass der männliche Rückzug in die Stille (Kapitel I.1 – Konzentration, II.1 Männliche Wurzeln) eine Voraussetzung für das innere Wachstum zu einer größeren, stärkeren Männlichkeit ist, die eben nicht aus der Mucki-Bude kommt, sondern aus dem be-Sinn-lichen Gespräch zweier, in der Stille gereifter Freunde.

Den Drachen zähmen

Warum ist es so schwierig, den die Kritik, und damit den „Schatten“ anzunehmen? Der wesentliche Unterschied zur Kritik-Verarbeitung der üblichen Form, wie Verharmlosung (ist ja wohl nicht so schlimm!), Relativierung (machen doch alle,…), Ablenkung (machst DU doch selbst auch), Rationalisierung (das hat ja einen guten Grund: …) ist der, dass die mit der Erkenntnis verbundene tiefere Einsicht, auch das damit verbundene Gefühl, ausgehalten werden muss.
Das ist meistens eine Traurigkeit über die bisher verdrängten Auswirkungen, und, damit verbunden, die SCHAM! Es ist eben manchmal schmerzhaft, bei der Betrachtung der eigenen „dunklen Flecken“ erkennen zu müssen: „SO bin / war ich … auch?!“ Man erkennt, wie man unbewusst, daher auch schuld- aber nicht verantwortungslos andere übergangen, vielleicht sogar verletzt hat.
Und wenn ich wirklich wachsen will, über das alte, kleinere, selbstbezogene EGO hinaus, dann übe ich „Reue“. Ich zeige, dass es mir selbst leid tut, was ich als eigenes Ungemach, am Ende nicht nur im Kopf, sondern vielleicht sogar körperlich als Unwohlsein spüre, dem anderen angetan habe. Und kommuniziere das!

Den Drachen reiten: Als Mann Demut praktizieren!

Denn „so paradox es klingt, … erfährt das Ich durch die Integration des Schattens eine ungeheure Stärkung.“ Demut, verstanden als der „Mut, den es braucht, anzuerkennen, was ist“, wird praktiziert in der aktiven, der tätigen Reue wegen meiner Irrtümer, Fehler, Schwächen und dem dadurch entstandenen Schmerz, den ich anderen zugefügt habe.
Das ist mehr als ein Einsehen, abwimmelnd, grummelnd, genuschelt: „Ok, da habe ich wohl Sch… gebaut, Schwamm drüber, ja? …“, sondern ganz praktisches Mitgefühl für und Einfühlungsvermögen in denjenigen, den ich verletzt habe. Kritik wird dann nicht nur angenommen, stehen gelassen, sondern ich als kraftvoller Mann gehe noch einen Schritt weiter: Ich schaue ihm in die Augen und halte diesen Blick aus, ich steige ein in das Gefühl dessen, der mir grollt!
Damit ist auch der Prozess der Ent-Schuldigung ein anderer. Hier beginne ich rücksichtsvoller zu werden: Es reicht nicht das nassforsche „Ok, sorry, ich entschuldige mich!“, denn das kann ich gar nicht alleine! Sondern „ich bitte um Entschuldigung.“ Das ist ein wichtiger Unterschied. Denn selbst wenn mein Handeln unbewusst, gedankenlos und daher nicht vorsätzlich war, kann ich auch unbewusst Schuld auf mich geladen haben. Ich habe jemandem etwas genommen oder ihm ein Leid zugefügt, deswegen schulde ich ihm etwas. In einem zweiseitigen Schuldverhältnis ist es schlicht unmöglich, dass ich mich alleine ent-Schuld-ige, ohne den Geschädigten ein weiteres Mal zu übergehen. Denn dann achte ich nicht seinen Schmerz! Sondern ich muss meinen „Gläubiger“ darum bitten, möglicherweise mit dem Angebot eines wie auch immer gearteteten Ausgleichs. Aber diesem Gespräch muss ich mich stellen. Und wenn ich die Einsicht (kognitiv) und Reue (emotional, aufrichtig) zu zeigen vermag und mir kein Unmensch gegenüber steht, wird er mir diese Bitte gewähren. Sühne ist dann die „tätige Reue“, die von der Schuld befreit.
Auch so entsteht Freiheit, nämlich Freiheit von bedrückender Schuld – und, nebenbei, innere Größe. Schulden zahlen macht frei! Denn auch das macht den Mann stark: ein reines, ein gutes Ge-Wissen.
Was tun mit den „Schatten“?
Die Schuld anerkannt zu haben, ist das eine. Sich ihrer Wirkungen in der Vergangenheit bewusst zu werden, sich den damit ausgelösten Gefühlen gestellt zu haben oder noch zu stellen, der zweite Schritt. Und dann? Wie verhindere ich, dass sie mich überfallen, dass ich wieder „ausraste“, mich vergrabe, trickse … ?
Roger Willemsen entblößt in seinem Artikel „Männer“ (s. Kapitel: „Der Anti-Mann“) wohl ungewollt seine von ihm innerlich abgelehnte Schattenseite, den Helden. „Im Augenblick des Heldentums sind Helden mit ihrem Handeln identisch. Ihre Besessenheit ist ihre Fähigkeit, die ganze Person hinter ihre Sache zu bringen. Diese bewundernswürdige Begabung, schlicht zu werden, fehlt den Zweiflern, den Besitzern gemischter Gefühle“ [Hervorhebung d.d.Verf.].
Was Willemsen hier beschreibt, ist essentiell für den „Guten Mann“. Zum einen spiegelt sich hier eine kaum verhohlene Verachtung für den Mann, der als „Held“ fokussiert, konzentriert ist. Er nennt ihn auch „schlicht“ und setzt damit den „Abgesang auf den Helden“ fort, wie ihn Michael Klonovski eindrucksvoll beschrieben hat. Wer Willemsen einmal sprechen gehört hat, seinen ondulierten Sprachstil aushalten musste in der selbstgefälligen Schnörkelei, der ahnt, dass Willemsen in diesen Sätzen sich selbst anprangert. Ein Mann – ein Wort; ein Willemsen – ein Wörterbuch.
Was Willemsen „schlicht werden“ nennt, ist die Erfahrung der doppelten Rücksichtslosigkeit des „Helden“: Zum einen gegenüber seinen eigenen „gemischten Gefühlen“, und zum anderen gegenüber den „Zweiflern“. Ein „Guter Mann“ geht aber weder über seine eigenen, noch über die Gefühle der anderen hinweg. Er ignoriert seine Ängste nicht, er bügelt sie nicht nieder, sondern er achtet und nutzt sie zur Verstärkung seiner Aufmerksamkeit, wie er auch die Gefühle seiner Mitmenschen achtet. UND er ist entschlossen. Mit seinen Ängsten stellt er sich hinter seine Sache und verfolgt sie. Im Unterschied zum „jungen Helden“, der sagt: „Ich kann alles, was ich tun will!“, beschreibt Helmut Remmler den demütigen Helden im Märchen „Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet“, der spricht: „Ich fürchte mich nicht, ich will´s mit Gottes Hilfe versuchen.“
Transformation von „Schatten“: Drachen dressieren

Du hast deinen Schatten erkannt? Mann, lebe deinen Schatten. Finde ein passendes Ventil: Praktiziere Gewalt im Teamsport, im Boxclub, im SM-Club, oder vergrabe dich bewusst, lerne zu zaubern. Wähle es, das Ungeheuer, den Drachen in dir auszuleben, gib dieser Aktion einen räumlichen und zeitlichen Rahmen – und bleibe dabei achtsam. Das bändigt ihn. Eine der euphorisierendsten Varianten, Schatten auszuagieren und sie so zu transformieren, ist der Sex. Im Bad und im Bett ist alles erlaubt – Das schafft Nähe zur Frau … Sprich mit ihr. Sie will sehen, dass du dich ihr stellst – und dann wird die dunkelste Seite deiner Persönlichkeit genießen.
Hier wird das Bild vom „inneren Team“ wichtig für mich: Ein Mann, der diese seine Schattenseiten erkannt, anerkannt und deren Bedeutung für sich ausloten will, kann diesem „inneren Drachen“ andere, positive Figuren gegenüberstellen, die seine Schatten auffangen und kompensieren.
Ein erstauntes „Oh, ja, das bin ich also auch?“, ist ein erster Schritt zur Anerkennung einer (vielleicht von mehreren) eigenen, „dunklen Seite“. Wenn das geschehen ist, wenn auf die Leugnung, auf die Verdrängung verzichtet werden konnte und das Gefühl der Scham, vielleicht sogar Schuld und Reue ausgehalten und durchgestanden worden sind, erst dann kann dieser Teufel, der Verräter, der missbrauchende Tyrann, der Feigling – welche „Figur“ auch immer aus dem Unbewussten aufgetaucht sein mag, erst dann kann sie ins „innere Team“ integriert werden. Denn entweder du lebst deinen Schatten (bewusst, aktiv) aus – oder der Schatten `lebt dich´, das heißt, man ist seinen unbewussten und destruktiven Verhaltensmustern machtlos ausgeliefert und zerstört seinen Erfolg und sich selbst.

Im folgenden Schritt, wenn ich dieser Figur ihren Platz in meinem Team zugewiesen und ihn als Teil meiner Persönlichkeit anerkannt habe, dann kann diese Figur sogar segensreich wirken: Die heilende Wirkung einer gelungenen „Integration meines Schattens“ entsteht durch die bewusste Annahme seiner Qualitäten, die eben jetzt auch die Meinen sind: Ein „Teufel“ zeigt mir vielleicht eine Möglichkeit des Umgangs mit dem Prozessgegner, der „Verräter“ zwingt mich zur kritischen Auseinandersetzung mit meinem Verhältnis zur Diskretion. Der „missbrauchende Tyrann“ zeigt mir die Schwächen meiner Fürsorge, meines Einfühlungsvermögens, zeigt mir, wo ich nachfragen muss, Befindlichkeiten Schutzbefohlener zu berücksichtigen; der „Feigling“ zeigt mir mit seiner Angst, wo ich vorsichtig agieren sollte, usw.
Das Ego wird somit zum Instrument, ich benütze es, um den tieferen Kern, meine Seele zum Ausdruck zu bringen: die Liebe. Es ist nicht die Liebe in der romantischen, kindlich-bedürftigen Form, sondern die Liebe zu allem, was ist. Eine Liebe, die nur, aber angemessen, gibt.
Pallas Athene, die „Kopfgeburt“ und Tochter des griechischen Über-und Göttervaters Zeus, liefert in der Orestie ein mythisches Beispiel, wie Schatten (hier die Rachelust) integriert werden können, indem sie sie in das eigene Haus einlädt. Die Demut, mit der sie sich ihnen stellt, ist beeindruckend: „In der Orestie erscheint die Göttin Athene als Figur der Versöhnung, Gerechtigkeit und der Achtung für potenziell negative Kräfte. … Athene war für ihren Mut im Kampf ebenso berühmt wie für ihr Wohlwollen im Frieden und ihren zivilisierenden Einfluss. Sie provozierte nie aktiv eine Schlacht, aber sie verlor auch nie. In der Orestie erschlägt Orest seine Mutter, um den Mord an seinem Vater zu rächen, und zieht so den Zorn der Furien [Rachegöttinnen]auf sich, die ihn erbarmungslos verfolgen und ins Exil und in den Wahnsinn treiben. Schließlich flieht er in einen Tempel der Athene. Diese setzt ein Gericht ein, das über sein Schicksal entscheiden soll … Doch die Abstimmung verläuft unentschieden, und so muss Athene selbst ihre Stimme abgeben: Orest soll freigesprochen und von der Blutschuld befreit werden. Damit zieht sie jedoch den Zorn der Furien auf sich selbst. Da sie ihre Gegnerinnen aber achtet, nimmt sie diese allmählich für sich ein: «Ich werde euren Zorn ertragen. Ihr seid älter als ich.» Sie versichert ihnen: «Kein Haus kann ohne euch gedeihen.» Sie garantiert ihnen einen Platz in der neuen Ordnung, «wo Schmerz und Kummer ein Ende haben» und bittet sie sogar zu bleiben. Schließlich löst sie durch ihr Mitgefühl und ihre Überzeugungskraft den Zorn der Furien auf, indem sie offen die Ähnlichkeiten zwischen sich selbst und den Furien einräumt und sich bereit zeigt, sie aufzunehmen und zu achten.“

Schattenarbeit mit Rüdiger Dahlke:
http://www.mystica.tv/dr-ruediger-dahlke-den-schatten-integrieren-video/

Für das, was hier abgehoben, mystisch und weltfremd klingen mag, gibt es durchaus reale, handfeste Beispiele im Leben: Rupert Voß hat mit besonderem Verantwortungsbewusstsein und großer Liebe für die betreuten Gewalttäter die „Work and Box Company“ gegründet und hilft damit straffällig gewordenen Jugendlichen, wieder in die Spur zu kommen. Sein Credo ist die Transformation schlechthin: „Die Gnade eines schweren Lebens“. Was ihm an Schwierigkeiten in seinem eigenen Leben begegnet ist, „übersetzt“ und gibt er weiter. Ganz bewusst setzt auch Kannengießer in seinem Boxcamp seine Gewalt-, Drogen- und Alkoholerfahrung ein, um kriminellen Jugendlichen einen Weg zurück in die Gesellschaft zu ermöglichen. Auf diese Weise ist sein inneres Wesen, seine tiefe Liebe und Mitmenschlichkeit … beispielhaft.
Viele Kinder und Jugendliche sind durch TV, Videospiele und Internet-Gewalt abgestumpft. Da tut Schocktherapie not: Der ehemalige Kriminelle Ivan Kirr besucht nach 15 Jahren Gefängnis wegen Mordes Schüler und mahnt ebenso eindringlich wie wirksam: „Im Gefängnis merkt Ihr, dass Ihr der Arsch seid.“

Tipps zur Schattenarbeit

• Finde deine Verhaltensmuster heraus, die für dich unkontrollierbar ablaufen und unter deren Folgen du leidest.
• Besprich diese mit langjährigen Freunden – sie kennen und mögen dich: BITTE sie um Hilfe bei der Erkenntnis.
• Beobachte, wenn du ein solches Muster an dir auftauchen siehst. NICHT urteilen, nicht unterbrechen, nichts tun: Nur beobachten.
• Finde die Kehrseite der Medaille: Wozu hat dir dieses Verhalten bisher genützt? Was war, wie im Yin/Yang-Zeichen, das „Gute im Bösen“?
• Schaffe dir einen schützenden Rahmen, im Freundeskreis oder mit einer liebenden Partnerin und sprich dich ab, bereite sie vor und dann „spiele das verbotene Spiel“.
• Übe „paradoxe Intervention“: Tue das Verbotene! Entschließe dich bewusst, das Muster einmal, mehrfach willentlich durchzuziehen – aber eben nicht als Getriebener, sondern als Regisseur und Hauptdarsteller dieser Szene.
• Finde ein oder mehrere Ventile für zerstörerische Verhaltensmuster (Holz hacken, Unkraut jäten, Karate,…) und sei dir bei diesen Tätigkeiten deines Schattens bewusst: Tobe ihn dort aus! Lasse dort „die Sau raus“.
• „Die Sau rauslassen“: Es soll Frauen geben, die genau das bei Männern im Bett schätzen (oder im Auto, Fitnesscenter-Duschkabine, Restaurant-Toilette, SM-Studio …) und den Softie aufgrund seiner Unfähigkeit genau dafür verlassen – für einen Macho.

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